31.03.2025
Stark wie der Löwenzahn
Jasmin Sonderegger: «Es gibt nicht "diese" Kinder, sondern nur "das" Kind. Fachpersonen müssen das einzelne Kind fragen, was es braucht, also bedürfnisorientiert vorgehen.» Bild: Suchtfachstelle Zürich
«Liebe Löwenzahnkinder, ihr seid nicht allein. Wir sind ganz viele.» Das ist deine versöhnliche Botschaft am Schluss deines persönlichen und auch traurigen Statements in Rahmen der Aktionswoche für Kinder von suchtkranken Eltern. – Du hast diesen Verein mitgegründet. Wie kam es zu dieser Idee?
2018 durchlebte ich eine schwierige Zeit mit meiner Mutter und hatte das Gefühl, von niemandem Unterstützung zu erhalten. Ich liess mich bei einer Suchtfachstelle beraten. Dort fühlte ich mich zum ersten Mal im Leben von einer Fachperson ernstgenommen, was den Umgang mit meiner Mutter betraf. In diesem Zusammenhang überlegte ich mir, was man einer 16-Jährigen oder gar einer 12-Jährigen in derselben Situation sagen würde: Für Jugendliche und Kinder aus suchtbelasteten Familien gibt es zwar Angebote, aber uns fehlte tatsächliches und ehrliches Verständnis, ohne gleich therapieren zu wollen. Zur Erklärung: Ich hörte von Fachpersonen wie Psychologen oder Erziehern häufig, ich sei nicht verantwortlich für meine Eltern und müsse loslassen. Aber wie soll das gehen? Das hat mir nie jemand beigebracht! So entstand die Idee des Vereins Löwenzahnkinder, der ihnen eine Stimme geben soll. 2020 haben wir ihn schliesslich gegründet. Wir bieten regelmässige Treffen und Aktivitäten an, sind Anlaufstelle bei allgemeinen Fragen und begleiten junge Erwachsene in Einzelfällen auch mal auf ein Amt.
Wofür steht der Name?
Die Pusteblume ist frei, leicht und tanzt sanft durch den Wind. Danach sehnt man sich als betroffenes Kind. Gleichzeitig ist der Löwenzahn unglaublich stark und kämpft sich jeden Weg frei.
Dein Verein organisierte im Winterthurer Salzhaus eine Lesung mit Gian-Marco Schmids neuem Buch «Abschiede von Mutter», besser bekannt als Rapper Gimma. Er und SRF-Journalist Robin Rehmann, der den Abend moderierte, sind ebenfalls Löwenzahnkinder. Der Saal war voll und euer Programm fand grossen Anklang. Eure Arbeit trifft einen Nerv. Was gibt dir dein Engagement persönlich?
Wie alle profitiere ich auch vom Gemeinschaftsgefühl. Die Tatsache, dass wir tatsächlich viele mit einer ähnlichen Geschichte sind, und wir das offen zugeben, gibt mir Kraft. Ein Beispiel: Ich lernte Michelle Halbheer im Spital kennen. Wir lagen als Teenagerinnen im gleichen Zimmer. Obwohl wir beide in suchtbelasteten Familien aufwuchsen, verschwiegen wir das voreinander. Erst als sie sich 2013 mit dem Buch «Platzspitzbaby» outete, fiel es mir wie Schuppen von den Augen, dass wir eine ähnliche Geschichte teilen. Michelle gehört auch zu den Gründungsmitgliedern des Vereins.
Was brauchen Kinder von suchtkranken Eltern generell?
Sie brauchen erwachsene Personen, denen sie vertrauen, die an sie glauben und bei ihnen bleiben – auch wenn es schwierig wird. Die Kinder sollen sich nicht vor Konsequenzen fürchten müssen. Eigentlich ist es banal: Sie brauchen wie jeder Mensch Liebe, Vertrauen, Geborgenheit und Sicherheit. Und sie brauchen jemanden, der ihre Stärken sieht und sie fördert, das kann auch eine Leidenschaft wie Fussball oder Zeichnen sein.
Was kann man als aussenstehende Person tun, wenn man vermutet, dass Kinder unter dem Konsum ihrer Eltern leiden, etwa als Nachbar*in, Lehrperson, Trainer*in?
Das ist eine schwierige Frage. Wichtig ist sicher, aufmerksam zu sein, hin- und nicht wegzusehen. Aussenstehende sollen eine Beziehung aufbauen zum Kind. Wenn eine Vertrauensbasis besteht, traut es sich vielleicht auch, etwas zu erzählen.
Was müssten wir als Organisation der Suchthilfe tun, um die Kinder zu unterstützen?
Die Kinder müssen sichtbarer werden. Die Öffentlichkeit spricht aktuell zum Beispiel wieder über die Bildung einer offenen Drogenszene, aber die Kinder dieser suchtkranken Menschen gehen wieder vergessen! Sie sollten mehr in den Fokus geraten. Fachpersonen müssen den Einzelfall anschauen: Es gibt nicht diese Kinder, sondern nur das Kind. Sie müssen das einzelne Kind fragen, was es braucht, also bedürfnisorientiert vorgehen.
Jasmin Sonderegger, Präsidentin Verein Löwenzahnkinder
Wie erklärt man einem Kind, dass die eigenen Eltern suchtkrank sind?
Kindgerecht, ehrlich, sachlich. Ich selbst wusste zuerst nicht, dass meine Eltern «krank» sind. Ehrlich gesagt finde ich das auch ein schwieriges Wort, denn eine Krankheit geht – in einem kindlichen Verständnis – ja irgendwann vorbei. Ich wartete jahrelang auf den Tag ihrer Genesung. Meine Eltern haben ihren Konsum versteckt, sie sagten, dass sie «nur am Wochenende» konsumieren. Erst als ich volljährig war, wurde mir die ganze Tragweite bewusst.
Du und dein Bruder wurdet fremdplatziert, was du später kritisiert hast. Weshalb?
Im Heim und in Pflegefamilien erlebten wir Zwang und Gewalt, erhielten aber auch eine Struktur und Sauberkeit. Von unseren Eltern hingegen erhielten wir viel Liebe, aber keine Sicherheit. Das Pendeln zwischen diesen zwei Welten war immer schwierig.
Kann eine Fremdplatzierung auch richtig sein?
Ja, das kann sie. Wenn die Bedingungen besser gewesen, gute Bezugspersonen vorhanden gewesen wären, hätte es auch für uns gepasst. Es war aber auch nicht alles nur schlecht: Ich hatte zum Beispiel eine super Beiständin, die mich nach Erreichen der Volljährigkeit weiter begleiten durfte – dank ihrer Hartnäckigkeit.
Was braucht es, damit die Sucht ihr Stigma verliert?
Ein offenes Sprechen, wie wir es als Verein tun. Wir müssen anerkennen, dass Sucht jeden treffen kann, keine Willensschwäche und weit verbreitet ist. Momentan erleben wir wieder einen Rückschritt: Auf nationaler Ebene werden im Suchtbereich viele Gelder gestrichen. Das zeigt doch, dass suchtkranke Menschen in der Politik keinen Stellenwert haben.
Jedes Kind reagiert anders. Du schreibst in einem Blogbeitrag, dir gehe es besser als deinen Geschwistern. Wie erklärst du dir das?
Ich war fünf Jahre alt, als meine Eltern mit dem Heroinkonsum begannen. Ich erlebte also fünf stabile, gute Jahre mit ihnen. Mein Bruder kam als 3-Jähriger bereits ins Heim, ich mit sechs Jahren. Während ich in einem Heim blieb, wurde er häufig umplatziert. Ich war als Kind eher still und introvertiert. Er war auffällig. Ich übernahm viel Verantwortung für meine Eltern und Geschwister, und finde heute meine Balance etwas besser, wenn auch nicht immer. Mein Vater ist vom Heroin losgekommen und ausgewandert. Zu meiner Mutter habe ich zurzeit keinen Kontakt.
Was spendet dir in schwierigen Situationen Kraft?
Die Natur, Tiere, Klavierspielen, Freund*innen.
Dein Bruder ist ebenfalls abhängig. Das Risiko, als Kind von suchtkranken Eltern ebenfalls eine Sucht zu entwickeln, ist gross. Wie war das bei dir?
Ich habe lang relativ viel gekifft, um die innere Unruhe abzuschalten. Erst vor Kurzem gelang es mir hinzuschauen und damit aufzuhören. Vor harten Drogen hatte ich immer Angst und liess deshalb die Finger davon. Der Hang zu riskantem Konsum steckt aber in mir.
Die heute 40-jährige Jasmin Sonderegger verbrachte ihre Kindheit teilweise bei ihren Eltern und teilweise im Heim. Ihre Eltern konsumierten Heroin und andere Drogen. Lange schämte sie sich für ihre Vergangenheit und schwieg über die Zustände, die sie zu Hause und als «Heimkind» erlebte. Mit dem Dokumentarfilm «Löwenzahnkind» wurde ihre Geschichte öffentlich. Das solle Betroffenen Mut machen und Licht in den Alltag von schätzungsweise 100’000 betroffenen Kindern bringen.